Das Gute, das Höchste Gut und das Gemeinwohl

Edmund Waldstein, O.Cist.

Übersetzt von Johannes Moravitz


Die folgenden 37 Thesen geben einen allgemeinen Überblick über die aristotelisch-thomistische Darstellung vom Guten, wie sie in Interpretationen von Thomisten der Laval-Schule, wie etwa Charles De Koninck, Duane Berquist und Marcus Berquist zu finden ist. Eine Druckversion ist hier zu finden. Eine englische hier und eine spanische hier.


Teil I: Das Gute im Allgemeinen und das Menschliche Gut[1]

1. Das Gute ist, was alle wollen.

Das Wort „gut“ scheint zumindest zwei verschiedene Bedeutungen zu haben. Fragte man einen kleinen Buben, nennen wir ihn Thomas, was gut sei, so könnte er Folgendes antworten: „Eis ist gut, Pizza ist gut, fernsehen ist gut, Fußball ist gut, Urlaub ist gut.“ Ein anderer Bub, nennen wir ihn Eustachius, vielleicht ein Musterkind, könnte hingegen antworten: „Den Eltern zu folgen“, oder „die Regeln nicht zu brechen“, oder sogar „Gott zu gehorchen“. Es scheint einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Wahrnehmungen des Guten zu geben. Tatsächlich aber sind beide nicht so unterschiedlich.

Beginnen wir mit Thomas., der dem Guten eine einfachere Bedeutung zu geben scheint. Was haben Eis, Pizza, fernsehen, Videospiele, Urlaub, Sport, etc. gemeinsam? Es sind alles Dinge, die Thomas will. Das ist zugleich die erste Definition des Guten, die uns Aristoteles gibt: Das Gute ist, was alle wollen oder begehren.

2. Das Gute ist gewollt, weil es gut ist.

Da das Gute definiert wird durch das Wollen oder das Begehren, könnte man meinen, dass das Begehren etwas gut macht. Dies klingt zunächst sehr plausibel: es scheint so, als wenn jemand etwas möchte, dies für ihn dann gut wäre. Möchte ein gewisser Soundso in Los Angeles leben, dann scheint es für ihn gut zu sein, dort zu leben. Dies wird auch durch den enigmatischen Charakter, wie von der Freud’schen Psychoanalyse beschrieben, angedeutet: Das Begehren scheint eine unlogische Kraft zu sein, die sich ohne vorherigen Grund an ein Objekt bindet. In David Foster Wallaces Roman „Infinite Jest“ bringt dies eine amerikanische handelnde Person gut zur Geltung: „Was, wenn du einfach nur liebst? Ohne dich zu entscheiden? Du tust es einfach.“ (S. 108) Wäre dies wahr, dann wäre die Definition des Guten eine Definition einer Wirkung von ihrer Ursache.  Und wäre dies wahr, so hätte sich der arme Eustachius, das Musterkind, geirrt – niemand anders, und kein Regelwerk könnten ihm sagen, was gut für ihn sei. Vielmehr sollte er lernen, auf sein Begehren zu hören und sich von der paternalistischen Unterdrückung befreien.

Nun gibt es aber auch Gründe daran zu zweifeln, dass es das Wollen ist, das etwas gut macht. Haben wir nicht alle bereits die Erfahrung gemacht, etwas zu wollen, von dem wir nachher zugaben, dass es nicht gut gewesen ist? Ich wollte noch dieses eine letzte Bier auf der Feier, gebe aber später zu, dass es nicht gut für mich war. Ich wollte mit 160 km/h die kurvenreiche Straße hinunterfahren, gebe aber später, im Krankenhausbett, zu, dass es nicht gut für mich war. Wenn etwas zu wollen dies gut machen würde, dann hätte mein Wollen des letzten Bieres dieses für mich gut gemacht.

In „Lectures on Ethics“ zieht Duane Berquist viele Beispiele an Grundbegehren und deren Objekte heran, und zeigt in jedem Fall auf, dass das Objekt nicht gut ist, weil es begehrt wird, sondern begehrt wird, weil es gut ist. Hunger ist das Verlangen nach Essen, aber essen ist nicht gut, weil es Hunger gibt. Im Gegenteil, Hunger gibt es, weil Nahrung gut ist und notwendig, um die eigene Substanz zu erhalten. Dasselbe gilt für das Trinken. Wasser ist nicht gut, weil Tiere durstig sind, sondern Tiere werden durstig, weil Wasser gut für sie ist. Die Natur hat ihnen den Durst eingegossen, um sicherzustellen, dass sie dieses Gut erlangen. Es scheint nicht das bloße Begehren zu sein, dass die sexuelle Vereinigung gut macht, sondern diese scheint eher deswegen begehrt zu sein, weil sie in sich gut ist und notwendig zur Erhaltung einer ganzen Art von Wesen. Und schließlich, selbst in unserer eigenen Erfahrung von Vergnügen scheint es das Gute des Vergnügens zu sein, das unser Begehren verursacht – wir sagen ja, davon „angezogen“ zu sein. Diese Liste könnte ins Unendliche geführt werden: Wissen, Freundschaft, Kunst, etc. Selbst Geld ist nicht gut, weil Menschen es wollen; sie wollen es, weil es so nützlich ist, um Dinge zu kaufen.

Jedoch stoßen wir weiterhin auf Schwierigkeiten mit der Idee, dass das Gute begehrt wird, weil es gut ist. Denn was gut ist, wird nur allzu häufig nicht gewollt. Wenn das Gute die Ursache des Begehrens ist, wie kommt es dann, dass Menschen oft nicht wollen, was gut ist? Wenn es für Thomas gut ist, in die Schule zu gehen, warum will dann Thomas nicht in die Schule gehen? Wenn es für ihn gut ist, sein Gemüse zu essen, warum will er es dann nicht essen? Wie kann die Ursache bestehen, ohne dass die Wirkung erfolgt?

Oder, wenn das Gute die Ursache des Begehrens ist, dann scheint es, dass das Gegenteil des Guten, das Schlechte, die Ursache für Abneigung sein müsse. Viele Menschen begehren jedoch, was schlecht für sie ist, wie wir anhand der Beispiele des „letzten Bieres“ und der 160 km/h Fahrt gesehen haben.

Diesen Einwänden kann jedoch begegnet werden. Bevor ich ein Gut begehre, muss ich es in irgendeiner Weise kennen. Hätte Thomas nie Süßigkeiten gekostet, so hätte er sie nie begehrt. Hätte Romeo Julia nie gesehen, so hätte er sie nie begehrt. Hätte Sokrates Weisheit nicht bis zu einem gewissen Grad verstanden, so hätte er sie nie begehrt. Das Gut ist daher nur als ein bekanntes Gut begehrenswert und ist daher so lange machtlos, Begehren zu verursachen, solange es unbekannt ist.

Und das Schlechte wird nicht begehrt, weil es schlecht ist, sondern vielmehr, weil es in irgendeiner Art und Weise gut ist oder zu sein scheint. Ich trank das letzte Bier nicht, weil ich mir all die schlechten Dinge, die mir deswegen zustoßen könnten, sondern das gute Vergnügen, das ich zu erlangen glaubte, vor Augen hielt. Zeitweise erscheint das Schlechte als das Gute, und wird mit diesem verwechselt. Wenn daher jemand „irrtümlich“ giftige Pilze isst, so tut er dies, weil er meint die guten Pilze zu essen, die ihnen so sehr ähneln.

3. Das Gute ist die Finalursache

Das Gute als „was alle wollen“ zu definieren ist daher keine Definition einer Wirkung von ihrer Ursache her, sondern genau das Gegenteil: eine Definition einer Ursache durch ihre Wirkung. Das Gute ist eine Ursache. Es ist die Finalursache, das Ziel oder der Zweck. Aristoteles unterscheidet bekannterweise zwischen vier verschiedenen Ursachen: die Materie, aus der etwas gemacht ist; die Form, die diese Materie hat; die handelnde Person, die der Materie ihre Form gibt und das Ziel, wozu die handelnde Person der Materie ihre Form gibt. So ist eine Statue von Napoleon etwa aus Bronze gemacht, in der Form eines korsisch-französischen Tyrannen, von einem Bildhauer, um den Tyrannen zu ehren. Die Finalursache ist zuletzt realisiert, muss aber in der Absicht zuerst vorhanden sein. Sie ist die Ursache der anderen Ursachen, denn die Form ist der Materie zwar durch die handelnde Person gegeben, die handelnde Person kann aber nicht handeln, es sei denn, sie hat einen Grund, um zu handeln.

4. Das Bessere ist nicht besser, weil es mehr gewollt wird.

Wenn etwas nicht gut ist, bloß weil es gewollt wird, dann ist etwas auch nicht besser, bloß weil es mehr gewollt wird. Wenn Sokrates meint, die besten Güter seien die Güter der Seele, die Athener hingegen, die Güter des Körpers und des äußeren Besitzes, so lässt sich dieser Streit nicht lösen, indem gesagt wird: „Für Sokrates sind Tugend und Weisheit besser, denn sie sind, was er will; für die Athener sind Vergnügen und Wohlstand besser, denn sie sind, was sie wollen.“ In Wahrheit sind Tugend und Weisheit besser. Die Athener bevorzugen Vergnügen und Wohlstand nur aus Ignoranz heraus – sie kennen Tugend und Weisheit nicht gut genug, um zu sehen, wie gut sie sind.

5. Das Ganze ist besser als ein Teil.

Ein ganzer Sessel ist besser als ein Teil eines Sessels. Ein ganzes Auto ist besser als ein Teil eines Autos. Ein ganzer Garten ist besser als eine Blume.

6. Das Ziel ist besser als das, was wegen des Zieles ist.

Gesundheit und Medizin sind beide gut, doch Medizin gibt es um der Gesundheit willen und Gesundheit ist besser als Medizin. Studium ist gut und Wissen ist gut, doch das Studium gibt es um des Wissens willen (es sei denn, jemand studiert bloß, um „die Zeit totzuschlagen“) und Wissen ist besser als das Studium.

7. Ein Gut ist nicht besser, weil es notwendiger ist.

Was ist besser: zu atmen oder Fußball zu spielen? Atmen ist offensichtlich notwendiger, dies jedoch, um anderes tun zu können. Thomas atmet, damit er Fußball spielen kann und nicht umgekehrt. Viele Ökonomen behaupten, dass in einem freien Tauschhandel jede Partei glauben muss, durch den Deal besser auszusteigen. Menschen aber sind nicht so töricht. Eine Witwe, die ihren Ehering verkauft, um Essen zu kaufen, ist sich völlig bewusst, dass der Ring besser ist als das Essen. Gleichzeitig versteht sie, dass Essen notwendiger ist. Weit davon entfernt, zu glauben, dass sie durch den „freien“ Tauschhandel besser ausgestiegen ist, ist sie vielmehr traurig, dass grausame Notwendigkeit sie gezwungen hat, das bessere für das schlechtere zu tauschen.

8. Ehrbare Güter sind besser als nützliche und angenehme Güter.[2]

Unsere Erkenntnis beginnt mit Wahrnehmung: mit dem, was wir sehen, fühlen, schmecken, riechen und hören. Und so sind die Bedürfnisse oder Begehren, die wir zuerst wahrnehmen, sinnliche Begehren. Diese Begehren verlangen nach sinnlichen Vergnügen. Thomas, der kleine Bub aus dem ersten Abschnitt, gibt zuerst Beispiele von Gütern dieser Art: Eis und Pizza, die die Sinne des Geschmacks und Geruches erfreuen; fernsehen, was die Sinne des Sehens als auch den innerlichen Sinn des Vorstellens erfreut; und so weiter. Diese Güter werden „angenehme Güter“ genannt.

Unsere Idee vom Guten beginnt mit den angenehmen Gütern, aber dann erweitern wir sie auf Dinge, die nützlich sind, um angenehme Güter zu erlangen. Diese Dinge nennen wir „nützliche Güter“. Weil Thomas Eis möchte, will er Dinge, die nützlich sind, um dieses Eis zu erlangen, wie etwa Geld oder Eiswagen. Es ist aber offensichtlich, dass er Eis mehr mag als diese Dinge, die nützlich sind, um das Eis zu erlangen. Er will auch Eis kaufen, aber Eis kauft man, um Eis zu essen. Also ist Eis besser als die Dinge und Unternehmungen, die das Eis zum Zweck haben.

Unsere Erkenntnis beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung, danach entwickeln wir vernünftige, intellektuelle Erkenntnis. Und diese Erkenntnis führt uns zu einem Verständnis von Grundgütern, wie die Erhaltung unseres Lebens und der Gesundheit, und dann weiter zu höheren Gütern wie Freundschaft, Weisheit, Gerechtigkeit, und diesen Dingen. Diese Güter werden „ehrbare Güter“ (bona honesta) genannt, weil sie Ehre verdienen. Ehrbare Güter sind besser als angenehme Güter. Ein Mann, der die Freundschaft oder Gerechtigkeit dem Vergnügen opfert, wird zurecht ein „Schwein“ genannt, da Vergnügen ein Gut der Sinne ist, die wir mit Tieren gemeinsam haben, während ehrbare Güter Güter einer vernünftigen Natur sind. Ein ehrbares Gut wird gewollt, nicht um anderes zu erlangen, nicht einmal Vergnügen, sondern es wird um seiner selbst willen gewollt.

Selbstverständlich kann ein und dasselbe Ding in verschiedenen dieser Möglichkeiten gut sein. Steak ist ein angenehmes Gut, aber auch nützlich, um Leben zu erhalten. Tatsächlich scheinen alle sinnlichen Vergnügen von Natur aus mit Handlungen verbunden zu sein, die zu niederen und allgemeineren Gütern führen, wie die Erhaltung und Fortpflanzung des Lebens. Ein Freund kann auf verschiedene Art und Weise nützlich sein, seine Anwesenheit angenehm, und er um seiner selbst willen geliebt werden. Die drei Arten von Gütern werden unterschieden je nach dem primären Grund, sie zu wollen: nützliche Güter werden primär wegen ihrer Nützlichkeit, um andere Güter zu erlangen, gewollt, angenehme Güter wegen des Vergnügens, und ehrbare Güter schlicht weil sie in sich gut und wünschenswert sind.

9. Ein ehrbares Gut ist besser als die Freude es zu erlangen.

Die Teilung des Guten in nützlich, angenehm und ehrbar wird zunächst angewandt, um zwischen verschiedenen Dingen, die aus verschiedenen Gründen gewollt werden, zu unterscheiden. Wie uns der hl. Thomas zeigt, werden jedoch ähnliche Unterscheidungen bei der Erlangung und Erhaltung fast jeden Guts getroffen. Fast immer gibt es die Schritte, die unternommen werden, um das Gut zu erlangen (dem Nützlichen entsprechend), das Gut selbst (dem Ehrbaren entsprechend), und das Ruhen oder sich Erfreuen am Gut (dem Angenehmen entsprechend). Im Fall vom Eis begehrenden Thomas können wir etwas zwischen dem Kauf von Eis, dem Eis selbst, und dem Vergnügen beim Essen von Eis unterscheiden.

Ähnliches können wir im Fall der ehrbaren Güter sehen. Es gibt die Schritte, um ein ehrbares Gut zu erreichen (nützlich), das ehrbare Gut selbst (ehrbar), und ein Ruhen und sich Erfreuen am ehrbaren Gut. Bei den höheren ehrbaren Gütern ist diese Freude kein sinnliches Vergnügen, sondern vielmehr eine intellektuelle oder geistige Freude, analog zum Vergnügen. So können wir etwa zwischen dem Lernen einer Wahrheit, der Wahrheit selbst, und dem sich erfreuen an der Wahrheit unterscheiden. Oder wir können auch zwischen den Schritten, sich mit jemanden zu befreunden, dem Freund selbst, und der Freude am Freund unterscheiden. Freude an einem ehrbaren Gut kann selbst ein ehrbares Gut sein, aber das Gute, woran man sich freut, ist besser als die Freude. Die Freude darüber, eine Wahrheit zu erlangen, ist ein ehrbares Gut, aber es ist natürlich, die Wahrheit selbst mehr zu lieben als die Freude daran. Die Freude an einem Freund ist ein ehrbares Gut, aber man muss den Freund selbst mehr lieben, als die Freude, sein Freund zu sein. Ein Zeichen davon ist, dass ein guter Freund will, was für seinen Freund am besten ist, selbst wenn dies bedeuten könnte, von ihm getrennt zu sein und sich daher nicht mehr im selben Maße an der Freundschaft erfreuen kann.

10. Ein ehrbares Gut ist besser als die Tätigkeit, durch die jenes besessen oder genossen wird.

Kehren zum Beispiel von Thomas und seinem Eis zurück. Wir haben zwischen dem Kauf von Eis, dem Eis selbst und dem Vergnügen daran, es zu verspeisen, unterschieden. Von ihnen können wir aber auch die Tätigkeit des Essens unterscheiden, und dieses ist ebenfalls ein Gut. Wir haben also vier Güter: der Kauf von Eis, das Eis selbst, Thomas das Eis essend und sein Vergnügen am Verspeisen von Eis.

Hier finden wir wieder eine Analogie zu den ehrbaren Gütern. Wir haben die Schritte, um das Gut zu erreichen, das Gut selbst, die Tätigkeit des Besitzens oder Genießens des Gutes und die Freude an dieser Tätigkeit: eine Wahrheit erlangen, die Wahrheit selbst, die Tätigkeit des Wissens der Wahrheit, die daraus fließende Freude; einen Freund kennenlernen, der Freund selbst, die Tätigkeit, mit ihm befreundet zu sein, die daraus fließende Freude.

Die Tätigkeit des Besitzens des Gutes ist besser als die daraus folgende Freude – die Kenntnis der Wahrheit ist besser als die aus der Kenntnis folgende Freude, der Akt der Freundschaft ist besser als die daraus folgende Freude. Aber das Gut selbst ist besser als die Tätigkeit des Besitzens – die Wahrheit selbst ist besser als die Kenntnis von ihr, der Freund ist besser als meine Freundschaft mit ihm. Das Gut selbst ist das Primäre – es ist letztlich das, was die Tätigkeit es zu erlangen so begehrenswert macht. Weil die Wahrheit gut ist, möchte sie der Philosoph erlangen. Weil eine Person gut ist, möchte eine andere mit ihr befreundet sein.

11. Alles begehrt Teilnahme am Ewigen und Göttlichen.

Wie wir gesehen haben (8), ist die erste Art des Begehrens, das wir erfahren, jenes, welches aus der sinnlichen Wahrnehmung kommt, das Begehren nach sinnlichen Gütern. Dann aber gelangen wir zur intellektuellen Erkenntnis, und daraus ergibt sich das Begehren nach Gütern, die wir durch die Vernunft erkannt haben. Dieses Konzept des Begehrens kann aber noch erweitert werden. Wir können auch bei Pflanzen, die keine sinnliche Wahrnehmung haben, und selbst bei unbelebten Dingen eine gewisse Tendenz beobachten, auf die sich dieses Konzept ausweiten lässt. Es lässt sich sogar argumentieren, dass alles, das auf irgendeine Weise handelt, etwas haben muss, das analog zum Begehren eines Gutes ist. Denn Handeln ist grundsätzlich unverständlich ohne den Bezug auf ein Ziel, da die Finalursache die Ursache aller Ursachen ist. In der Physik zeigt Aristoteles auf, dass natürliche Dinge Dinge sind, die ein inneres Prinzip der Bewegung haben, und dass diese Bewegung auf ein Ziel gerichtet ist. Selbst unbelebte Dinge scheinen zumindest eine Tendenz zu haben, in Existenz zu verbleiben und Vernichtung zu widerstehen. Bei Pflanzen ist dies noch offensichtlicher. Pflanzen nehmen Wasser und Licht auf, um zu wachsen und weiterhin zu existieren. In Platos Symposium (207d) erklärt Diotima den Instinkt der Fortpflanzung dahingehend, dass sich die sterbliche Natur so gut wie möglich bemüht, ewig und unsterblich zu sein. Aristoteles wiederholt diese Erklärung in De Anima (415a-b), indem er argumentiert, dass alles, das natürliche Dinge der Natürlichkeit wegen tut, dies tut, um am Ewigen und Göttlichen teilzuhaben und daher Fortpflanzung die natürlichste aller Handlungen sei. Fortpflanzung verleiht keine individuelle Unsterblichkeit, aber sie verleiht einer bestimmt Art von Dingen Unsterblichkeit.

12. Alles begehrt seine eigene Vollkommenheit.

Natürliche Dinge wünschen nicht bloß, weiter zu existieren, sondern sie wünschen, ihre Natur zu vervollständigen und vervollkommnen. Ein Samenkorn strebt danach, in eine vollständige Pflanze aufzugehen, ein Tier in ein erwachsenes Tier. Die Natur eines Dinges ist ein Prinzip, das es zwingt, sich selbst zu vervollkommnen. Thomas will erwachsen werden, er will seine Fähigkeiten entwickeln, seine Möglichkeiten aktualisieren und realisieren. Im Laufe des Älterwerdens will Thomas nicht bloß seine eigene individuelle Natur vervollkommnen, sondern auch seinen Freunden und Kindern helfen, die ihre zu vervollkommnen. Und er wird den Gemeinschaften, von denen er ein Teil ist – seine Fußballmannschaft, sein Geschäft, seine Heimat – helfen wollen, die ihre zu vervollkommnen. Vielleicht möchte er sogar seinen Teil dazu beitragen, das menschliche Geschlecht zu vervollkommnen.

13. Menschliche Tätigkeit ist immer um des letzten Zieles des menschlichen Lebens willen.

Es gibt eine Menge an Gütern, die ein kleiner Bub wie Thomas will. Jedes dieser Güter ist für ihn begehrenswert weil sie in irgendeiner Art und Weise (oder zumindest scheint es so) zu seiner Vervollkommnung und Vollkommenheit beitragen oder die Vollkommenheit einer Gemeinschaft, deren Teil er ist).  Sein Begehren nach diesen hat daher seine Ursache in seinem Begehren nach völliger Vollkommenheit – und nur weil er völlige Vollkommenheit begehrt, begehrt er diese überhaupt. Wie der hl. Thomas zeigt (Summa theologiæ Ia-IIae, q 1, a1.), begehrt er daher immer, wenn er ein Gut begehrt, das nicht völlige Vollkommenheit aufweist,  dieses um der völligen Vollkommenheit willen. Völlige Vollkommenheit ist das letzte Ziel von Thomas Leben und alle anderen Ziele sind im Vergleich zu diesem nur Mittel. Das bedeutet nicht, dass Thomas genau weiß, was das letzte Ziel ist, oder was notwendig ist, um es zu erreichen. Es bedeutet bloß, dass um etwas zu wählen, er dieses als gut betrachten muss, und das wiederum bedeutet, dass er dieses als etwas betrachten muss, das zu Bedeutung und Ziel in seinem Leben führt.

14. Das Gesetz ist eine Hilfe das Ziel zu erreichen.

Eustachius, das Musterkind aus dem ersten Absatz, identifiziert „gut“ mit dem Gehorchen von Autorität, dem Befolgen von Regeln, etc. Wir können jetzt erkennen, wie diese Vorstellung vom Guten im Zusammenhang mit Thomas Vorstellung vom Guten als „Dinge, die er will“ steht. Ein kleines Kind weiß nicht genau, was sein letztes Ziel ist, und kann daher sehr leicht über die Mittel, die dazu führen, getäuscht werden. Seine Eltern werden ihn daher befehligen, bestimmte Dinge zu tun, die ihm helfen, das Gute zu erreichen. Die Regeln, die seine Eltern aufstellen, sind also Mittel, um zu erreichen, was er wirklich will. Zu tun, was ihm seine Eltern sagen, ist daher selbst eine wertvolle Wahl, gut in einem sekundären Sinn. Ähnliches gilt für die Gesetze der menschlichen Gesellschaft, die eine Hilfe sind, ihre Vollkommenheit zu erreichen, und das Gesetz Gottes, das Er der gesamten Schöpfung eingegossen hat, damit sie ihr Ziel erreicht.

Eustachius Vorstellung lässt sich also auf jene von Thomas zurückführen. Keiner von beiden hat allerdings eine genaue Vorstellung vom Guten. Thomas identifiziert das Gute mit jenen ihm am bekanntesten Gütern, auch wenn sie nicht die wichtigsten sind, um das finale Ziel zu erreichen. Eustachius hingegen identifiziert das Gute mit bestimmten Mitteln, um jenes Gut zu erreichen, das ihm seine Eltern gegeben haben.

15. Das intrinsische finale Ziel eines Dinges ist, seine ihm eigentümliche Handlung gut durchzuführen.

Wenn ein Ding seine Natur voll entwickelt hat, ist es fähig, eine Handlung durchzuführen, die nur es allein durchführen kann, oder zumindest besser als andere Dinge. In der Diskussion um die ihm eigentümliche Handlung eines Dinges bespricht Aristoteles zuerst die Handlungen von bestimmten menschlichen Aktivitäten (Nikomachische Ethik 1,6 1097b24-30), da diese uns am bekanntesten sind. Die ihm eigentümliche Handlung eines Kochs ist es zu kochen, die eines Dachdeckers Dächer zu errichten, die eines Lehrers zu lehren. Und in all diesen Fällen ist der Zweck und das Ziel der Aktivität seine ihm eigentümliche Handlung. Warum müssen wir kochen? Um zu kochen. Kochen ist der Zweck des Kochs. Und wir haben Dachdecker, um Dächer zu errichten und Lehrer um des Lehrens willen.

Dasselbe kann man im Fall von menschlichen Werkzeugen beobachten. Die ihm eigentümliche Handlung des Korkenziehers ist es Korken zu ziehen, und dies ist somit Ziel und Zweck des Korkenziehers. Die ihr eigentümliche Handlung eines Messers ist es zu schneiden, und somit ist schneiden der Zweck eines Messers.

Auch gilt dasselbe für die verschiedenen Körperteile. Die ihm eigentümliche Handlung des Auges ist es zu sehen, und somit ist sehen der Zweck des Auges. Die ihm eigentümliche Handlung des Herzens ist es Blut zu pumpen und dies ist somit das Ziel des Herzens.

Wir können daher verallgemeinern und sagen, dass, wann auch immer ein Ding eine Handlung durchführt, die nur es durchführen kann oder zumindest besser als andere Dinge, dann ist diese Handlung die ihm eigentümliche Handlung. Wir müssen dies jedoch weiter qualifizieren, da man zwischen dem intrinsischen Gut und dem Objekt dieser Handlung unterscheiden kann. Das erste ist das intrinsische Gut eines Dinges; das zweite ist sein extrinsisches Gut. Das intrinsische Gut eines Kochs ist es zu kochen, das extrinsische Gut eines Kochs ist hingegen Nahrung.

Eine weitere Qualifizierung ist liegt darin, dass das Ziel eines Dinges ist, seine eigentümliche Handlung gut zu erfüllen. Der Zweck eines Messers ist nicht bloß zu schneiden, sondern gut zu schneiden. Um seine ihm eigentümliche Handlung gut durchzuführen, benötigt ein Ding eine bestimmte Qualität oder Qualitäten, die klassisch „Tugenden“ genannt werden (Das Wort virtus („Kraft/Tugend“) hat mittlerweile eine sehr enge, moralistische Bedeutung erlangt, ursprünglich war diese jedoch weiter gefasst – man denke etwa an die „Tugend“ von Kräutern). Die Tugend eines Messers ist Schärfe, da die Schärfe eben jene Qualität ist, die das Messer ermöglicht, gut zu schneiden. Wir können also sagen, dass das intrinsische Gut eines Dinges, welches eine ihm eigentümliche Handlung innehat, ist, seine ihm eigentümliche Handlung in Übereinstimmung mit seiner ihm eigentümlichen Tugend durchführt.

16. Das intrinsische finale Ziel des menschlichen Lebens ist die der menschlichen Tugend entsprechende vernunftgeleitete Handlung.

Was ist die dem Menschen eigentümliche Handlung? Es wäre seltsam, hätten Köche, Dachdecker und Lehrer alle ihre ihnen eigentümliche Handlung, und der Mensch als Mensch hätte aber keine. Aristoteles argumentiert (Nikomachische Ethik 1,6), dass die dem Menschen eigentümliche Handlung weder das bloße Wachsen und die Selbstversorgung, was er mit den Pflanzen teilt, noch das sinnliche Leben, welches er mit den Tieren teilt, sein kann, sondern das Leben der Vernunft sein muss. Das Leben der Vernunft hat jedoch zwei Arten der Handlung inne: Die Handlung der Vernunft selbst – wie etwa wissen, verstehen und urteilen – und die vernunftgeleiteten Handlungen der anderen Seelenteile – die vernünftigen Handlungen des Willens und die Handlungen der Emotionen, geleitet und gemäßigt durch die Vernunft. Diese alle können „Handlung der Vernunft“ genannt werden. Das intrinsische finale Ziel des menschlichen Lebens ist daher die vernunftgeleitete Handlung in Übereinstimmung mit jenen Qualitäten, die ermöglichen, diese Handlung gut auszuführen, nämlich die intellektuellen und moralischen Tugenden.

17. Objektive Glückseligkeit ist besser als subjektive Glückseligkeit.

Das intrinsische Gut des menschlichen Leben ist die vernunftgeleitete Handlung in Übereinstimmung mit der menschlichen Tugend. Und so wäre das extrinsische Gut des menschlichen Lebens das Objekt dieser Handlung. Das Objekt dieser Handlung muss selbst etwas Gutes sein. Und es wird es ein ehrbares Gut sein, kein bloßes angenehmes oder nützliches Gut. Wir haben jedoch weiter oben (10) gesehen, dass ein ehrbares Gut besser ist als die Handlung, durch die man es erlangt. Das extrinsische Gut des menschlichen Lebens muss also besser sein als das intrinsische Gut.

Am Beginn der Nikomachischen Ethik verleiht Aristoteles dem Ziel des menschlichen Lebens jenen Namen, den die meisten Menschen ihrer verwirrten Auffassung vollendeter Vollkommenheit geben: die Glückseligkeit (εὐδαιμονία). Wir haben weiter oben (9-10) gesehen, dass die Handlung, durch die man ein ehrbares Gut erlangt, besser ist als die Freude es zu erlangen, und dass das Gut selbst besser ist als beide. All diese Dinge sind so sehr aufeinander bezogen, dass sie alle Glückseligkeit genannt werden können. In thomistischer Tradition wird das intrinsische Gut (seine eigene Handlung gut durchgeführt) eines Menschen subjektive Glückseligkeit genannt, während das Objekt der Handlung, sein extrinsisches Gut, objektive Glückseligkeit genannt wird. Wir können jetzt sehen, dass genau gesprochen, das finale Ziel des Menschen objektive Glückseligkeit ist, und nicht das subjektive Erlangen dieses Zieles oder die Freude des Erlangens. Was aber ist das Objekt der dem Menschen eigentümliche Handlung? Was ist objektive Glückseligkeit?

TEIL II: DAS HÖCHSTE GUT[3]

18. Gott ist unendliche Vollkommenheit und das unendlich Gute.

Gott ist der Eine, der Ist. Er besitzt die Fülle des Seins, in der vollständigen Einfachheit seines Wesens. „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14). Es gibt keinen Mangel in Gott. Es gibt in Ihm keine Trennung, keine Dehnung, keine Begrenzung. Er ist ein unendlicher Ozean der Vollkommenheit, und er besitzt all dies auf einmal im ewigen Moment seines ewigen Lebens. Es gibt kein unrealisiertes Potential in Gott; Er ist actus purus („reiner Akt“). Und somit ist Er unendlich und vollkommen gut. In der unaussprechlichen Glückseligkeit des trinitarischen Lebens ist Gottes unendliche Vollkommenheit bekannt, ausgedrückt, geliebt und gegeben unter den drei Personen, die selbst jeweils der eine Gott sind.

19. Gott teilt seine Güte mit den Dingen, die er schafft.

Auf Seine Güte mit unendlicher Liebe schauend, will Gott diese teilen. Denn, wie der Hl. Thomas sagt (SCG I,75), „die Dinge, wie wir um ihrer selbst willen lieben wollen wir […] so viel wie möglich vervielfachen.“ Da aber das Wesen des Göttlichen absolut einfach und eines ist, kann es nicht in sich selbst vergrößert und vervielfacht werden. Die einzige Möglichkeit, durch die das göttliche Wesen vervielfacht werden kann, ist durch Ähnlichkeit, durch eine Abbildung, die immer das Original unterschreitet. Das Gute der Kreaturen ist Teilnahme am Guten Gottes, teilhafte Beteiligung durch Ähnlichkeit am Guten Gottes.

20. Das Gute der Geschöpfe findet sich mehr in ihrem Schöpfer als in ihnen.

Da die Vollkommenheit der Geschöpfe bloße Ähnlichkeit der göttlichen Vollkommenheit ist durch Teilnahme an Seiner Güte, liegt ihre Vollkommenheit viel mehr in Ihm als ihnen selbst. Die Vollkommenheiten, die getrennt in der Vielheit der geschaffenen Dinge liegen, existieren in einer geeinten und vollkommeneren Weise in Gott, der sie geschaffen hat.

21. Das größte geschaffene Gut ist die Ordnung der gesamten Schöpfung.

Jedes Geschöpf spiegelt einen unterschiedlichen Aspekt des göttlichen Guten wieder, da niemand die Gesamtheit des göttlichen Guten darzustellen vermag. Die Einheit Gottes aber gehört zur Beschreibung des unendlichen Guten. Wie der heilige Thomas lehrt: „Einheit gehört zur Idee des Guten […] so wie alle Dinge das Gute begehren, begehren sie auch Einheit; ohne diese würden sie aufhören zu existieren. Denn etwas existiert solange als es eins ist.“ (Ia q 103, a3) Deswegen, weil die Schöpfung Ähnlichkeit des Guten ist, das wesentlich eins ist, folgt, dass die Vielheit der Geschöpfe in einer Weise zusammengebracht werden muss, um so die göttliche Einheit nachzuahmen. Die Einheit, die zur Vielheit der Geschöpfe gehört, ist die Einheit der Ordnung, die Harmonie, die sie alle miteinander verbindet. Der hl. Thomas beweist dies anhand des Schöpfungsberichts im Buch Genesis: „Das Gut der Ordnung von verschiedenen Dingen ist besser als eines dieser geordneten Dinge allein genommen: denn es ist formgebend in Bezug auf diese einzeln, wie die Vollkommenheit des Ganzen in Bezug auf die Teile […] Folglich heißt es (Gen 1,31): Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und es war sehr gut, nachdem von jedem Einzelnen gesagt wurde, dass es gut sei. Denn jedes ist in seiner Natur gut, aber alle zusammen sind sehr gut, nach dem Bericht über die Ordnung des Universums, welche die äußerste und edelste Vollkommenheit in den Dingen ist. (II,45)

22. Die Geschöpfe tun alles, was sie tun, aus Liebe zu Gott.

Da die Vollkommenheit der geschaffenen Dinge mehr in Gott als in ihnen selbst liegt, ist Gott für sie begehrenswerter als sie sich selbst. Wie der hl. Thomas sagt: „Gut zu sein gehört in erster Linie zu Gott. Denn ein Ding ist gut je nach seiner Erwünschtheit. Nun sucht alles seine eigene Vollkommenheit; und die Vollkommenheit und Form einer Wirkung besteht in einer gewissen Ähnlichkeit zum Handelnden, da dieser sie ähnlich macht; und somit ist der Handelnde selbst begehrenswert und hat die Natur des Guten inne.“ (Ia, q6, a1, c) Ein weiteres Mal: „Alle Dinge begehren, indem sie ihre eigene Vollkommenheit begehren, Gott selbst, insofern die Vollkommenheiten aller Dinge so viele Ähnlichkeiten des göttlichen Wesens sind.“ (Ebd. Ad 2) Pflanzen wachsen, Vögel singen, Geparden laufen – sie alle suchen ihre eigene Vollkommenheit zu erreichen, dennoch ist es viel mehr Gott, den sie suchen als sich selbst. Wir können nun den Grund für die oben genannte These (11) sehen, dass alle Dinge Teilnahme am Ewigen und Göttlichen begehren; sie tun dies, weil sie ihren ewigen und göttlichen Schöpfer begehren.

23. Geschöpfe lieben Gott natürlicherweise mehr als sich selbst.

Der hl. Thomas vergleicht die natürliche Liebe der geschaffenen Dinge zu Gott mit dem eines Teils zum Ganzen (Ia q60, a5). Geschöpfe sind nicht Teil ihres Schöpfers (wir sind schließlich keine Pantheisten), und trotzdem sind sie auf ihren Schöpfer zugeordnet wie Teile zum Ganzen. Die Vollkommenheit, die sie inne haben, ist Teilnahme, partielle Beteiligung, an Seiner Vollkommenheit. Deswegen lieben alle Geschöpfe Gott natürlicherweise mehr als sich selbst.

24. Nur Personen können unmittelbar Gott in Ihm selbst lieben.

Pflanzen, Vögel und Löwen haben explizite Kenntnis von Gott. Die Pflanzen werden durch eine höhere Ursache angetrieben, ihre eigene Vollkommenheit zu entwickeln – ihre Liebe wird nicht durch ihr eigenes Wissen ausgelöst. Die Tiere werden durch die Natur bewegt, aber auch sie werden durch das Wissen um eine sinnliche Ähnlichkeit bewegt. Nur rationale und intellektuelle Geschöpfe (also Personen) haben die Fähigkeit, Gott als Gott zu erkennen, und daher eine Liebe zu Ihm in Ihm zu erzielen. Es gibt jedoch zwei Arten der Erkenntnis von Gott: eine natürliche Erkenntnis, die Gott mittelbar als Ursache der Geschöpfe erkennt, und eine übernatürliche Erkenntnis, die Gott unmittelbar erkennt. Und somit gibt es zwei Arten der ausgelösten Liebe zu Gott: eine natürliche, hervorgerufene Liebe und eine übernatürliche Liebe. Die übernatürliche Liebe zu Gott ist ein Geschenk der Gnade, die die natürliche Liebe zur Vollkommenheit führt.

25. Gott ist die objektive Glückseligkeit aller Personen.

Die Sehnsucht eines jeden, der dazu fähig ist, den Schöpfer zu erkennen, kann nicht durch irgendein Geschöpf befriedigt werden. Alles Begehrenswerte in einem Geschöpf ist die Ähnlichkeit zum Schöpfer, aber kein Geschöpf hat die unendliche Vollkommenheit des Schöpfers inne. Gott alleine macht zufrieden. Er ist die objektive Glückseligkeit (vgl. 17).

26. Sünde tritt ein, wenn ein geringeres Gut Gott vorgezogen wird.[4]

Wie wir gesehen haben, steckt die natürliche Liebe zu Gott in allen Dingen, die aber nicht durch explizite Kenntnis von Ihm ausgelöst wird, sondern die Neigung zur göttlichen Vollkommenheit in allen natürlichen Dingen ist. Diese Art der Liebe scheitert nicht. In Personen gibt es auch eine höhere Art der Liebe, die der Erkenntnis folgt. Aber während Gott natürlicherweise den Geschöpfen liebenswürdiger ist als sie sich selbst, ist er ihnen nicht erkennbarer. Geschöpfe erkennen zuerst andere Dinge, und dann Gott. Das gilt selbst für die Engel. Abseits der Gnade erkennen sie ihre eigene Natur unmittelbar, Gott aber nur mittelbar als Ursache ihrer Naturen. Somit können sie die Vollkommenheit ihrer eigenen Natur Gott vorziehen, und das ist die Sünde der gefallenen Engel. Menschen können in derselben Weise sündigen, aber auch auf andere Weise. Da menschliche Personen zuerst durch ihre Sinne erkennen, und dann vernünftige Erkenntnis von sinnlicher abstrahieren, können sie dazu geführt werden, sinnliche Güter (wie etwa Eis) den höheren Gütern vernünftiger Natur vorzuziehen. Es gibt nichts Sündiges an den niederen Gütern, solange sie nicht höheren Gütern vorgezogen werden; Sünde tritt dann ein, wenn diese mehr als höhere Güter geliebt werden, oder in einer Weise, die nicht mit der Liebe zu Gott über allen Dingen vereinbar ist. Eine Sünde ist eine Todsünde, wenn ein niederes Gut in einer Weise gewählt wird, die mit der Liebe zu Gott als das finale Ziel des Lebens nicht vereinbar ist; sie ist lässlich, wenn es in einer Weise gewählt wird, die (um Fr. Joseph Bolin zu zitieren), „die nicht ganz zur Liebe zu Gott passt, dennoch mit ihr vereinbar ist – das finale Ziel bleibt Gott, aber man hängt zu sehr an etwas, das ein Mittel zu Gott darstellt.“ („Commandments and Counsels“ – http://www.pathsoflove.com/blog/2009/01/commandments-and-counsels/).

Teil III: Gemeingüter[5]  

27. Ein Gemeingut unterscheidet sich vom Privatgut darin, dass es geteilt nicht verringert wird.

Die ersten uns bekannten Güter sind die sinnlichen Güter, wie Eis. Und diese Güter verlieren an Wert, wenn sie geteilt werden. Wenn Eustachius Thomas einen Teil von seinem Eis gibt, so hat nun Thomas den Teil, den Eustachius nicht mehr hat. Eustachius kann diesen Teil, den er hergab, nicht mehr genießen. Dem hl. Thomas und Charles De Koninck folgend, nennt Marcus Berquist diese Güter private Güter, da sie nur zu einer Person, unter Ausschluss der anderen, gehören. Ein Privatgut ist hingeordnet auf den, dessen Gut es ist. In der Liebe eines Privatgutes wird eigentlich die Person geliebt, für die das Gut beabsichtigt ist. Aristoteles spricht davon (Nikomachische Ethik, VIII, 2 1155b30), dass es ja lächerlich wäre, dem Wein selbst wohlzuwollen, man will den Wein höchstens wohl erhalten, um ihn selbst zu haben. Dies ist so, weil Wein ein Privatgut ist.

Ein Gemeingut  ist auf der anderen Seite ein Gut, dass es geteilt nicht verringert wird. Wenn Thomas Eustachius einen Witz erzählt, dann hört er nicht auf, den Witz selbst zu genießen – tatsächlich kann sich sein Vergnügen durch das Teilen noch vergrößern.

28. Gemeingüter sind besser als Privatgüter.

Ein Witz ist nur ein angenehmes Gut; echte Gemeingüter sind ehrbare Güter. Güter wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede sind Gemeingüter im vollen Sinn. Sie verringern sich nicht, wenn sie geteilt werden. Darüber hinaus sind sie nicht auf uns hingeordnet; wir sind auf sie hingeordnet. Man begehrt Gerechtigkeit und Friede voranzubringen, um ihrer selbst willen. Gemeingüter sind besser als Privatgüter. Es ist ehrenhaft, ein Gut für einen Menschen zu erlangen, aber es ist besser und göttlicher, ein Gut zu erlangen, welches viele teilen können (vgl. Nikomachische Ethik 1094b). Das Gemeinwohl ist nicht besser als bloße Summe der Privatgüter vieler Individuen. Auch ist es kein Gut ihrer Gemeinschaft als scheinbar individuelles Gut, vielmehr ist ein wahres Gemeingut ein Gut für jede der teilhabenden Personen – ein Gut, auf das sie hingeordnet sind. Das kann nicht stark genug betont werden: Das Gemeingut ist ein persönliches Gut. Die Unterordnung von Personen unter dieses Gut ist daher kein Versklaven dieser. Sie werden nicht auf das Gut eines anderen hingeordnet (das Gut „der Nation“ oder „der Menschheit“, abstrakt betrachtet), sondern vielmehr auf ihr eigenes Gut, aber ein Gut, das sie nur zusammen innerhalb der Gemeinschaft haben können. Das Gemeinwohl ist eine universale Ursache in der Ordnung der finalen Kausalität. Die Tatsache, dass es seine Kausalität auf mehr Auswirkungen erweitert als ein Privatgut, zeigt wie viel besser es ist.

29. Je mehr sich Personen entwickeln, desto mehr ordnen sie sich auf universale Gemeingüter hin.

Als kleiner Bub hat Thomas nur wenig Kenntnis von Gemeingütern. Die ersten Güter, von denen er spricht, sind Privatgüter wie Eis. Mit der Zeit lernt er jedoch Güter zu lieben, an denen seine ganze Familie teilhaben kann, ohne diese zu verringern: Der Friede und die Freuden des Familienlebens. Und er beginnt zu verstehen, dass er eine Verantwortung gegenüber diesen Gütern hat und bestraft werden kann, wenn er sie verletzt (was aber nicht bedeutet, dass er ein Musterkind wie Eustachius werden muss).

Thomas beginnt an Aktivitäten wie Schach, Fußball und Theaterstücken teilzunehmen, Aktivitäten, die ihn befähigen, andere Gemeingüter mit seinen Freunden zu teilen. Später beginnt Thomas zu sehen, dass sein ganzes Leben mit anderen in einer politischen Gemeinschaft verbunden ist, in der große Gemeingüter wie Gerechtigkeit realisiert werden können, in der Menschen einander Rechenschaft über ihre Taten ablegen (siehe Roger Scruton über Verantwortlichkeit und meine Antwort darauf) und eine staatliche Autorität sie befehligt.

30. Die Familie ist eine unvollkommene Gesellschaft, die einige Gemeingüter erlangen kann.[6]

In einem gewissen Sinn ist die Familie (oder der Haushalt) eine vollkommene Gesellschaft, da sie jeden Aspekt des menschlichen Lebens berührt – mit dem Leitsatz: „Handle mit Vernunft in Übereinstimmung mit den menschlichen Tugenden“. Es gibt verschiedene Gemeingüter, die die Familie erlangen kann: die gemeinsame Feier von Festen, verschiedene Wahrheiten, die Schönheiten der Musik, des Tanzes, u.a. und vor allem die Gelassenheit der Ordnung des eigenen Lebens. Wäre aber eine Familie isoliert, wie es beispielsweise die Lykow Familie in Sibirien war, so würde ihre Entwicklung verkümmern, da alle Kraft auf das Erlangen von Privatgütern, wie Nahrung und Heizmaterial, gerichtet werden müsste. Sie könnte daher an vielen Gemeingütern nicht teilhaben. Eine Familie ist somit in einem anderen Sinn unvollkommen, sie ist auf natürliche Weise auf eine größere Gesellschaft hingeordnet, die sie befähigt, ihre eigenen Gemeingüter besser zu erreichen und an anderen, größeren Gemeingütern teilzuhaben.

31. Vereinigungen sind unvollkommene Gesellschaften, die Gemeingüter erlangen können, die einer bestimmen menschlichen Praxis innewohnen.

Alasdair MacIntyre definiert Praxis als „irgendeine kohärente und komplexe Form einer sozial etablierten kooperativen menschlichen Handlung, durch die der Handlung innewohnende Güter im Zuge des Versuchs, die Standards der Vorzüglichkeit, die dieser Art der Handlung angemessen und teilweise diese bestimmend sind, zu erreichen, realisiert werden, mit dem Ergebnis, dass die menschlichen Kräfte, diese Vorzüglichkeit zu erreichen, und die menschlichen Vorstellungen von den  beteiligten Zielen und Gütern systematisch erweitert werden.“ (After Virtue, S. 187) Schach, Architektur, Geschichte, Malen, Musik, die Erforschung der Physik – all das sind Praktiken im Sinne MacIntyres. (MacIntyre betrachtet auch Politik als eine Praxis, jedoch gibt es, wie Thomas Osborne argumentiert, bedeutende Unterschiede zwischen Politik und anderen Praktiken, da Politik die Praxis einer vollkommenen Gemeinschaft ist). Solche Praktiken zielen auf ihnen innewohnende Güter ab. Damit sind Güter gemeint, die nur erlangt werden können, wenn man an der Praxis teilnimmt. Werden diese Güter erreicht, sind sie für die ganze Gemeinschaft, die an dieser Praxis teilnimmt, gut. Eine Gemeinschaft, die um solch eine Praxis herum errichtet wurde, ist keine vollkommene Gemeinschaft, da sie sich nicht um das Ganze des menschlichen Lebens sorgt, nicht mit dem Leitsatz „handle mit Vernunft in Übereinstimmung mit den menschlichen Tugenden“, sondern nur mit einem bestimmten Teil davon (Ich übergehe hier die Praxis der Politik). Solche Gemeinschaften sind normalerweise nicht in derselben Art wie die Familie gegeben; üblicherweise (wenn auch nicht immer) muss man sie wählen, bevor man Teil davon wird. Ich nenne in einer MacIntyrischen Praxis betätigten Gemeinschaften von Personen „Vereinigungen“.

32. Philosophische Kontemplation ist hingeordnet auf das Erreichen des Gemeinwohls aller Dinge.

Nach Platons und Aristoteles Darstellungen ist die größte natürliche menschliche Handlung die Handlung der philosophischen Kontemplation, durch die Personen die zeitliche Welt zu transzendieren und ewige Wahrheiten zu erlangen vermögen. Diese Handlung ist den MacIntyrischen Praktiken ähnlich, transzendiert jedoch diese, da sie nicht mit den Gemeingütern eines bestimmten Teiles des menschlichen Lebens beschäftigt ist, sondern (zumindest mittelbar) mit Gott selbst, das universale Gemeinwohl aller Dinge, auf Den alle anderen Gemeingüter hingeordnet sind.

33. Ein Gemeinwesen ist eine vollkommene Gesellschaft, beschäftigt mit dem Ganzen des menschlichen Lebens, das die größten natürlichen Gemeingüter erlangen kann.

Das menschliche Leben ist natürlich geordnet. Es ist natürlich für viele Familien eng zusammen zu wohnen, einander im Erreichen der Gemeingüter zu helfen und für ihre Gemeinschaft nach Regeln geordnet zu sein. Aristoteles bezeichnet die Vereinigung von wenigen Familien als ein Dorf (κώμη), argumentiert aber, dass solch kleine Gemeinschaft noch nicht ausreichend wäre, alle Gemeingüter, auf die die menschliche Natur hingeordnet ist, zu erlangen (Politik I,2 1252b 15-27). Daher ist es für viele Dörfer natürlich, zusammenzukommen um eine Stadt (πόλις) zu gründen, eine vollkommene oder perfekte Gesellschaft, die nicht von einer größeren Gesellschaft abhängt, um seine Ziele zu erreichen. Solche vollkommenen Gesellschaften (die wir „Gemeinwesen“ oder „Staatenbünde“ nennen können) nehmen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten viele Formen an, aber immer wird eine Art der Herrschaft miteinbezogen, die diese auf das Gemeinwohl hinordnet. Wie Coëmgenus in einem Beitrag für den Josias sagt: „Selbst wenn es keinen Staat gibt, werden die Menschen regiert (z.B. durch Stammesbräuche). In großen, komplexen Gesellschaften findet das Gemeinwesen einen formalen Ausdruck (niedergeschriebene Gesetze, gesalbte Könige, formale Wahlen, etc.). Im liberalen Westen, nimmt es die Form einer Vereinigung von Institutionen an, die wir einen „Staat“ nennen. Nicht alle Menschen leben in einem Staat, aber jede (vollkommene) menschliche Gemeinschaft ist per definitionem ein Gemeinwesen.“ Gemeinwesen ermöglichen Familien, lokalen Gemeinschaften („Dörfer“) und Vereinigungen aufzublühen, indem sie viele Gemeingüter realisieren. Sie erlauben aber auch die Erlangung größerer Gemeingüter.

Die Verwirrung stiftende Vielfalt der Formen, die Gemeinwesen annehmen können, macht es manchmal schwer zwischen einem Gemeinwesen und einem Dorf, einer vollkommenen und einer unvollkommenen Gesellschaft zu unterscheiden. Wie kann man nun erkennen, ob eine Gemeinschaft fähig ist, alle Ziele der menschlichen Gesellschaft zu erreichen? Auf Thomas Osborne eingehend, habe ich argumentiert, dass ein Zeichen für diese Unterscheidung Folgendes sein kann: eine vollkommene Gesellschaft hat die Autorität, zwingende Gesetze, durch das Schwert vollstreckbar, zu schaffen. Selbst dann kann es aber schwer sein, sie zu unterscheiden. So war beispielsweise die westliche Christenheit vor dem Aufkommen der „souveränen“  Territorialstaaten der frühen Neuzeit ein sehr komplexes System sich überlappender Autoritäten: Grafschaften, Herzogtümer, Königreiche und das Reich – alle die Autorität, das Schwert zu benutzen, beanspruchend.

Gegenwärtige Nationalstaaten stellen ein Problem einer anderen Art dar. Während sie in vieler Hinsicht wie vollkommene Gesellschaften funktionieren, so haben sie doch die Schwierigkeit, die Autorität, das Schwert zu benutzen, zu rechtfertigen. Sie alle haben mehr oder weniger eine liberale politische Ideologie adaptiert, die festhält, dass der Staat nicht auf das Gemeinwohl, sondern die Privatgüter von Individuen hingeordnet sein soll. Ein Zeichen dafür ist die Abschaffung der Todesstrafe im Großteil des gegenwärtigen Westens.[7] Dies ist zwar eine logische Folge seiner politischen Prinzipien, dennoch stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß westliche Nationalstaaten überhaupt vollkommene Gesellschaften, fähig das grundlegende Gemeinwohl des politischen Lebens zu erreichen, sein können.

34. Das grundlegende intrinsische Gemeinwohl eines Gemeinwesens ist der Friede.[8]

Was ist es, dass einer vollkommenen Gemeinschaft das Recht gibt, ihre Gesetze mit dem Schwert durchzusetzen? Die Autorität zu töten ist eine scheinbar göttliche Macht, denn Gott alleine ist der Herr von Tod und Leben. „Sie [die staatliche Gewalt] steht im Dienst Gottes und verlangt, dass du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.“ (Röm 13,4). Die Autorität des Gemeinwesens stammt von Gott, denn sie stammt vom Gemeinwohl. Das grundlegende intrinsische Gemeinwohl eines Gemeinwesens ist die Einheit der Ordnung, der Friede. Dieser Friede hängt von der Unterscheidung der verschiedenen Familien, Dörfer und Vereinigungen im Gemeinwesen ab. Er besteht teilweise im gemeinsamen Genuss der Gemeingüter dieser Gemeinschaften. Er besteht auch teilweise in bürgerlicher Freundschaft und in der Tätigkeit des Regierens. Aber dieser Friede selbst ist ein größeres Gut als alle dieser Teilgüter (abgesehen von der philosophischen Kontemplation Gottes als erste Ursache), weil dieser Friede eine Teilhabe an der Ordnung der gesamten Schöpfung ist, die, wie wir weiter oben gesehen haben (21), die größte geschaffene Teilhabe am göttlichen Guten ist. Dieses Gut ist daher für jede Person ein größeres als seine Privatgüter. Es ist ein Gut, auf das sie sich hinordnen können, für das sie ihr Leben in der Schlacht hingeben können. Wenn sie dieses Gut verletzen, dann bekämpfen sie das Gute ihres eigenen Lebens, und diejenige Autorität, die sich um dieses Gut sorgt, kann sie rechtmäßig töten.

Trotzdem ist das Gemeinwohl des Staates nicht das größte Gemeinwohl auf das Personen hingeordnet sein können. Wie wir weiter oben gesehen haben (25), sind Personen durch Erkenntnis und Liebe auf Gott als das höchste Gemeinwohl aller Dinge hingeordnet, ein Gut, das das intrinsische Gut eines irdischen Gemeinwesens unendlich übertrifft.

35. Das grundlegende intrinsische Gemeinwohl des Gottesstaates ist die durch Gnade wiederhergestellte und erhöhte Ordnung der ganzen Schöpfung.

Personen sind dazu bestimmt Gott nicht bloß durch natürliche philosophische Kontemplation zu erreichen, sondern durch die durch Gnade geschenkte übernatürliche Schau Seines Wesens. Sie sind dazu bestimmt, diese Schau auf ewig in der „Himmlischen Stadt“ zu genießen, die nichts anderes als das Ganze der wiederhergestellten Schöpfung ist. Das extrinsische Gemeinwohl dieser Stadt wird Gott selbst, von allen Engeln und Heiligen gesehen, sein, aber ihr intrinsisches Gemeinwohl ist die Ordnung der ganzen Schöpfung, die größte Ähnlichkeit des göttlichen Guten, sogar noch größer gemacht durch ihre Einsetzung von Personen, die wie Er geworden sind, indem sie Sein Wesen sehen: „Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ (1 Joh 3,2). Der Gottesstaat ist jedoch bereits vor der Wiederkunft des Herrn in einer verborgenen und teilweisen Art hier auf Erden in der streitenden Kirche anwesend. In diesem irdischen Leben haben wir noch nicht die Schau des göttlichen Wesens, aber wir erkennen Gott durch die theologischen Tugenden des Glaubens, und wir lieben Ihn mit derselben Liebe, die wir im Himmel haben werden.

36. Das Gemeinwohl der zeitlichen Gesellschaft ist dem des Gottesstaates untergeordnet.

Bis zur Wiederkunft des Herrn besteht die Kirche, die unmittelbar auf das Gemeinwohl der Himmlischen Stadt hingeordnet ist, neben den zeitlichen Gemeinwesen, die wiederum unmittelbar auf das zeitliche Gemeinwohl hingeordnet sind. Das zeitliche Gemeinwohl ist jedoch Teilhabe an der Schöpfungsordnung selbst und kann daher die daran Teilhabenden um des ewigen Gemeinwohl willens entlassen. Das zeitliche Gemeinwohl ist daher dem ewigen Gemeinwohl untergeordnet, und somit die zeitlichen Herrscher der Hierarchie der Kirche (Siehe „Integralism and Gelasian Dyarchy ).

37. Die theologische Tugend der Liebe setzt uns in die richtige Beziehung zum Gemeinwohl des Gottesstaates.

Das Notwendigste, um irgendein Gemeingut zu erlangen, ist die Liebe zu diesem Gut. Um Gott als das Gemeinwohl des Gottesstaates zu lieben, ist es am notwendigsten, die theologische Tugend der Liebe zu besitzen. Ich schließe mit einem Text des hl. Thomas, der diese These darlegt. Er ist zwar länger, dennoch zitiere ich ihn ganz, da er gewissermaßen eine Gesamtdarstellung des Gemeinwohls gibt:

Daher sagt der Philosoph im 8. Buch der Politik, dass ein guter Politiker das Gute des Staates lieben muss.

Wenn aber der Mensch, sofern ihm Zutritt zum Guten eines, an dem er teilhaben darf, gewährt wird, ein Bürger dieses Staates wird, kommen ihm die Tugenden zu, um zu tun, was dem Bürger zusteht und um das Gute des Staates zu lieben. Ähnlich ist es, wenn der Mensch durch die göttliche Gnade zur Teilhabe an der himmlischen Glückseligkeit zugelassen wird, die in der Schau und im Genuss Gottes besteht; er wird gewissermaßen Bürger und Gefährte jener seligen Gemeinschaft, die das himmlische Jerusalem genannt wird, wie es in Eph. 2,19 heißt: „Ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.“

Daher komme dem Menschen – auf diese Weise den himmlischen Dingen zugehörend – gewisse umsonst gegebene Tugenden zu; diese sind die eingegossenen Tugenden. Zu deren geschuldeter Tätigkeit wird die Liebe zum gemeinsamen Guten, die das göttliche Gute und der Gegenstand der Glückseligkeit ist, in der ganzen Gemeinschaft vorausgesetzt.

Das Gute eines Staates zu lieben betrifft jedoch ein Zweifaches: einerseits, damit man es besitzt und andererseits, damit man es bewahrt.

Das Gute eines Staates zu lieben, damit man es festhält und besitzt, bildet aber noch nicht das die Gemeinschaft betreffende Gute, weil auf diese Weise auch ein Tyrann das Gute des Staates liebt, sofern er von ihm beherrscht wird. Das heißt, dass er sich selbst mehr liebt als den Staat, denn er begehrt sich selbst als dieses Gute, nicht den Staat. Das Gute des Staates jedoch zu lieben, um es zu bewahren und zu verteidigen, dies meint wahrhaft, den Staat zu lieben. Das die Gemeinschaft betreffende Gute ist nämlich nur dann verwirklicht, wenn diejenigen, die das Gute des Staates bewahren und erweitern sollen, sich dafür in Lebensgefahr begeben und das eigene Gute zurückstellen.

Das Gute, an dem die Seligen schon teilhaben, so zu lieben, dass man daran festhält und es besitzt, bewirkt noch nicht, dass der Mensch sich angesichts der ewigen Glückseligkeit gut verhält, denn auch die Schlechten begehren dieses Gute. Dieses Gute aber um seiner selbst willen zu lieben, so dass es bewahrt, verbreitet und nichts dagegen getan wird, das bewirkt, dass der Mensch sich gut verhält angesichts jener Gemeinschaft der Seligen. Das ist die heilige Liebe [caritas] , die Gott um seiner selbst willen und die Nächsten, die zur Glückseligkeit befähigt sind, wie sich selbst liebt.“ (De Virtutibus, 2.2 c.; Übersetzung von Winfried Rohr)


[1] Teil I folgt im Wesentlichen Duane Berquists „Lectures on Ethics“ (https://archive.org/details/duaneberquistonethics).

[2]Für die Abschnitte 8-9 siehe Sebastian Walshe, The Primacy of the Common Good as the Root of Personal Dignity in the Doctrine of St. Thomas Aquinas, and Michael Waldstein, „Dietrich von Hildebrand and St. Thomas Aquinas on Goodness and Happiness.“ (https://de.scribd.com/document/234217445/The-Primacy-of-the-Common-Good-as-the-Root-of-Personal-Dignity-in-the-Doctrine-of-St-Thomas-Aquinas) (https://de.scribd.com/document/50609890/Waldstein-Michael-Dietrich-von-Hildebrand-and-St-Thomas-Aquinas-on-Goodness-and-Happiness).

[3] Zu Teil II siehe P. Edmund Waldstein, „Qui Posuit Fines Tuos Pacem“ (https://de.scribd.com/document/31549176/On-Peace-as-the-Final-Cause-of-the-Universe) sowie ders. „Thomism, Happiness, and Selfishness“ (https://sancrucensis.wordpress.com/2012/09/21/thomism-happiness-and-selfishness/). 

[4] Siehe Charles De Koninck, On the Primacy of the Common Good, 42-45.

[5] Teil III basiert zu einem großen Teil auf Marcus Berquists „Common Good and Private Good“ (https://de.scribd.com/doc/61181449/Marcus-Berquist-Common-Good-and-Private-Good) und Charles De Konincks „On the Primacy of the Common Good” (https://emmilco.files.wordpress.com/2014/06/de-koninck-common-good.pdf).  

[6] Siehe Beatrice Freccia, „Beyon ‘The Supply of Daily Needs‘: Understanding Aristotle’s Account of The Relationship of the Household to the State,” Teil I hier (https://thejosias.com/2015/02/10/understanding-aristotles-account-of-the-relationship-of-the-household-to-the-state/), Teil II hier (https://thejosias.com/2015/02/11/understanding-aristotles-account-of-the-relationship-of-the-household-to-the-state-part-ii/).

[7] Für einen thomistischen Bericht über die Todesstrafe siehe Steven Long, „, Goods‘ Without Normative Order to the Good Life, Happiness, or God: The New Natural Law Theory and the Nostrum of Incommensurability.“ (https://thomistica.net/news/2011/9/18/goods-without-normative-order-to-the-good-life-happiness-or.html)

[8] Siehe hierzu meine Blog-Einträge „What ist the Primary Intrinsic Common Good of Political (or Imperial) Community?” (https://sancrucensis.wordpress.com/2013/05/31/what-is-the-primary-intrinsic-common-good-of-political-or-imperial-community/) und „Accountability and Paternalism, Imbalance of Power and Civil Friendship“ (https://sancrucensis.wordpress.com/2014/05/24/accountability-and-paternalism-imbalance-of-power-and-civil-friendship/).